KREISVERBAND BRAUNSCHWEIG
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Der Autoritarismus löst die Pandemie nicht

Der Autoritarismus löst die Pandemie nicht

Für die Verteidigung demokratischer Prinzipien und einen solidarischen Umgang mit der Krise

Der Autoritarismus löst die Pandemie nicht

Am 30. März hat sich das ungarische Parlament selbst entmachtet. Auf unbestimmte Zeit wurde der Regierung Orban ermöglicht, per Dekret zu handeln und somit jede demokratische Kontrolle durch die Opposition abgeschafft. Das Verbreiten von Fake News kann mit Haft bestraft werden, ohne dass definiert wäre, was dies konkret bedeutet. Ein Mitgliedsstaat der Europäischen Union hat damit einen weiteren Schritt in Richtung Diktatur gemacht – unter dem Vorwand des Gesundheitsschutzes und der Eindämmung des Corona-Virus.

Die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland und Ungarn unterscheiden sich, die Bundesrepublik steht keineswegs kurz vor dem Schritt in die Diktatur. Dennoch sind auch hier zwei Phänomene zu beobachten, die uns nachdenklich stimmen sollten:

Zum einen erleben wir seit einigen Wochen massive Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens. Nicht nur die Geschäfte sind geschlossen, sondern auch Einrichtungen des täglichen Lebens wie Kinos, Freizeittreffs, Jugendclubs und Schwimmbäder. Die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit sind nahezu auf Null beschränkt worden. Demonstrationen, Konferenzen und andere Formen der politischen Willensbildung können nicht stattfinden. Die Landesregierungen haben innerhalb weniger Tage Fakten geschaffen, ohne dass es dazu nennenswerte parlamentarische Debatten gegeben hätte. Mit der Begründung des Gesundheitsschutzes wurden Beschränkungen erlassen, die sonst wahrscheinlich (und hoffentlich) massiven Protest hervorgerufen hätten. Auf der anderen Seite ist der Staat in seinen Handlungsoptionen kaum eingeschränkt, es finden weiterhin Abschiebungen und Hausräumungen statt. Weiterhin werden kritische Nachfragen, wie sie etwa Anne Will an den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder formulierte, ob es sich hier nicht auch um die Inszenierung als besonders energischen Macher handeln würde, als „unangemessen” zurückgewiesen.

Gleichzeitig, und das wäre das zweite Phänomen, sind laute Rufe nach stärkeren Beschränkungen zu hören – nicht etwa von rechten Politiker*innen, sondern aus dem Querschnitt der Bevölkerung. In den Kommentarspalten der sozialen Medien fordern Menschen absolute Ausgangssperren und massive Bestrafung derer, die sich vor der eigenen Wohnungstür aufhalten. Es geht dabei nicht darum, ob Ausgangssperren wissenschaftlich sinnvoll wären oder was die Folgen dieser Maßnahmen sein könnten. In diesen Momenten wird der eigene autoritäre Charakter ausgelebt und auf die Menschen gezielt, die es wagen, sich allein oder zweit auf eine Wiese zu setzen, um den eigenen vier Wänden für eine Stunde zu entkommen.

Ähnlich funktionieren auch die Appelle von mehr oder weniger prominenten Persönlichkeiten, die in Fernsehspots dazu auffordern, zuhause zu bleiben. Dabei handelt es sich um eine Forderung, die sich leicht aufstellen lässt, wenn „zuhause” ein eigenes Haus mit Grundstück und Swimmingpool bedeutet oder eine Vier-Zimmer-Wohnung mit Balkon. Sie baut moralischen Druck auf die Menschen auf, die es in den beengten Wohnverhältnissen ihrer Familie oder WG nicht aushalten können und deshalb vor die Tür müssen. Gerade junge Menschen, die nun kaum noch die Gelegenheit haben ihr Elternhaus wenigstens für kurze Zeit zu verlassen und sich mit Freund*innen zu treffen sind hiervon betroffen. Wir brauchen einen verantwortungsbewussten Umgang mit den notwendigen Selbstbeschränkungen der Coronakrise aber niemand benötigt anzeigewütige Watchdog-Gruppen und selbsternannte ehrenamtliche Polizeihelfer*innen, die öffentliches Shaming von Menschen betreiben oder nach immer drakonischeren Strafen rufen.

Wenn wir nach Corona nicht in einer zunehmend autoritären Gesellschaft leben wollen, müssen wir jetzt schon darüber diskutieren, wie es weiter gehen soll. Eingriffe in unsere Grundrechte können niemals als selbstverständlich gelten. Sie müssen stets gut begründet sein und von einem kritischen öffentlichen Diskurs begleitet werden, damit ihre Folgen gesellschaftlich vernünftig abgewogen werden können. Daher müssen alle Maßnahmen und Einschränkungen eindeutig zeitlich begrenzt sein und einem permanenten Prozess der Evaluation ihrer Sinnhaftigkeit unterworfen werden. Dabei können wir uns nicht nur auf Expert*innen und Politiker*innen verlassen, sondern sind selbst gefragt uns in die politische Debatte einzumischen. Nur auf diese Weise lässt sich auch langfristig eine Situation verhindern, in der ohne die effektive Kontrolle von Parlamenten und Zivilgesellschaft einfach „durchregiert” wird.

Es ist ein gefährlicher Irrglaube, dass Krisensituationen nur dann zu bewältigen sind, wenn ein starker, d.h. autoritärer Staat unliebsame demokratische Prinzipien aussetzt, um eigenmächtig und effizient „zum Wohle des Volkes” zu agieren. Gerade die Corona-Pandemie zeigt, dass gesellschaftliches Bewusstsein und ein solidarischer Umgang mit der Krise zur gegenseitigen Unterstützung und zum Schutz anderer unerlässlich sind. Die unzähligen solidarischen Nachbarschaftsinitiativen beweisen bereits, dass wir dazu in der Lage sind – ganz ohne Dekrete und Verordnungen.

Als sozialistischer Kinder- und Jugendverband müssen wir darauf hinarbeiten, dass diese solidarischen Strukturen auch nach der Pandemie weiter bestehen bleiben. Als Teil einer kritischen und aktiven Zivilgesellschaft müssen wir uns gegen jede Politik wenden, die aktives Engagement und solidarisches Bewusstsein durch autoritäre Krisenlösungsstrategien zu ersetzen versucht.